Grenzüberschreitungen

Ausstellung im Iwalewa-Haus (Bayreuth) 1990 – Leben und Werk der Künstlerin Susanne Wenger

Susanne Wenger wurde 1915 als Tochter eines Gymnasiallehrers für Moderne Sprachen in Graz geboren. Schon als Kind wollte sie Künstlerin werden, aber da es in Graz damals keine Kunstschule gab, schickten die Eltern sie auf die Kunstgewerbeschule. Dort belegte Susanne Wenger das Fach Keramik; eigentlich nur, weil ihr der Lehrer sympathischer war als die anderen Dozenten. Rückblickend aber sagt sie: "Was zunächst wie Zufall aussieht, führt dich doch in die eigene Richtung. Es führt ein gerader Weg von den ganz frühen Arbeiten zu dem, was ich heute mache. Denn meine Lehmschreine sind wirklich eine Art von Keramik."

Von Graz ging Susanne Wenger nach Wien, wo sie zunächst an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt studierte. Hier war ihr alles zu engstirnig und zu kleinkariert. Sie suchte das "wahre Leben" - in den Cafes am Naschmarkt, wo sie nächtelang mit Gemüsehändlern, Tramps und Künstlern diskutierte. Schließlich traf sie Professor Andre der sie in die Meisterschule der Kunstakademie in Wien aufnahm und ihr ein eigenes Studio zur Verfügung stellte. Dort studierte sie zwei Jahre - von 1933 bis 1935 - Freskomalerei. Während des Krieges wurde ihr von den Nazis Malverbot auferlegt (ihre Arbeiten fielen unter den Begriff "Entartete Kunst"), so dass sie weder Farbe noch Leinwand kaufen konnte. Sie konzentrierte sich damals auf kleine Farbstiftzeichnungen. Nach dem Kriege gründete sie zusammen mit Wotruba, Ernst Fuchs und anderen den Wiener Artklub. Ein befreundeter Kunsthändler ermöglichte ihr 1949 einen einjährigen Aufenthalt in Paris, doch schon im Dezember 1950 bot sich ihr die Gelegenheit, nach Nigeria zu gehen - und sie ist dort geblieben, vierzig Jahre lang. Damals ahnte sie kaum, wie grundlegend sich ihr Leben dort verändern würde. Ihre Kollegen in Wien und Paris vermuteten eher, dass sie nach ein oder zwei Jahren in die europäischen Metropolen zurückkehren würde, mit neuen Erfahrungen und künstlerischen "Anregungen."

Dennoch deutete schon manches in ihren ganz frühen Arbeiten auf das einzigartige "metaphysische Abenteuer" hin, in das sie sich in Nigeria stürzen würde. Schon ihre ganz frühen Bilder, dunkle steirische Landschaften, wurden von einem Kritiker als "Heiligenbilder" beschrieben, weil in ihnen die Bäume den Charakter von vergeistigten, zauberhaften Wesen annahmen. Mythologischen Charakter hatten auch die Farbstiftzeichnungen, die in Wien während der Bombenangriffe entstanden; diese Zeichnungen wurden vollständig geträumt und unmittelbar nach dem Erwachen zu Papier gebracht. Leider sind alle diese Arbeiten verloren gegangen, aber unter den etwa zwei Dutzend Farbstiftzeichnungen, die ich in den 50er Jahren noch gesehen habe, sind mir zwei besonders lebendig in Erinnerung geblieben: Auf dem einen Bild stürzen Schafe auf ein glühendes Gestirn herab, wo ihre Wolle zischend verbrennt. Auf dem anderen steigen blinde Urtiere aus dem Meer und schleppen ihre schweren Körper mühsam über den Sand. Aus ihren feuchten Fußstapfen entstehen archaische, menschenartige Wesen. Erst Jahre später hat Susanne Wenger diese Geschichte in einem Buch über Eskimo-Mythen gelesen! Solche Zeitverschiebungen und "Vor­auserinnerungen" kommen immer wieder in ihrem Leben vor.

Unmittelbar nach dem Krieg malte Susanne Wenger eine Reihe von grauen Ölbildern, von denen drei noch in ihrem Besitz sind: "Das Liebespaar", "Der Heimkehrer" und "Die Vögel sind nicht eingeladen." (Diese Bilder werden ebenfalls in der Ausstellung gezeigt.) Die Bilder reflektieren "die Art und Weise, wie ich den Krieg erlebt habe", doch spielen sich die Handlungen in einer archaischen Welt ab; Beweis dafür, wie sehr Susanne Wenger von Mythologie und Schamanentum schon damals fasziniert war. Sie hatte "sehr unsystematisch" alles gelesen, was sie über Tibet oder die Eskimos finden konnte. Rückblickend meint sie, dass sie ihr Leben genauso gut bei den Inuit oder den Tibetanern wie bei den Yoruba hätte gestalten können. Der Kahn, der am Ufer liegt, scheint zu klein und zu fragil, um das Liebespaar über das drohende Gewässer bringen zu können. Die Liebe wird hier in unmittelbarer Nähe zum Tod dargestellt. "Die Vögel sind nicht eingeladen" mutet wie ein in Urzeiten zurückversetztes "Abendmahl" an. Die Vögel schauen durch die Fenster des von Säulen getragenen Palastes und sehen zu, wie die Menschen einen Vogel verzehren. Menschen, Vögel und das Lamm, das an der Tafel erscheint, sind traumhafte, zaghafte Wesen. Wir wissen nicht, wer hier wem geopfert wird, und wer hier wen verrät - dennoch spüren wir, dass sich hier etwas abspielt, das auch für uns Konsequenzen haben wird.

In "Heimkehrer" reitet ein Soldat nach dem Krieg nach Hause, doch er trägt den Feind, den er getötet hat, mit sich. "Er trägt die Sünde mit sich, aber ohne Schuld. Zu Hause heißt man ihn willkommen, weil er die Bedeutung des menschlichen Leidens mit sich nach Hause bringt." Der Soldat reitet in ein zerfallenes barockes Gebäude, dessen Säulen und Rundbögen eine visionäre Darstellung des Gebäudes sind, in dem Susanne Wenger seit über dreißig Jahren in Nigeria wohnt! Ein weiteres Beispiel für die "Vorauserinnerung", die im Leben der Künstlerin eine so große Rolle spielt.

Die Bilder der "Grauen Periode" muten wie Zeugen einer versunkenen Kultur an. Man glaubt fast, dass irgendwann eine archäologische Ausgrabung ein altes Manuskript zutage fördern wird, das diese mysteriösen Bilder entschlüsseln wird.

Wenn man sich in diese drei Bilder hineinversenkt, dann versteht man auch, warum Susanne Wenger später gesagt hat: "Ich brauchte mich bei meiner Begegnung mit der Yoruba-Religion überhaupt nicht zu verändern." Das Jahr in Paris erscheint aus jetziger Sicht wie ein Intermezzo im Leben der Künstlerin. Eine letzte kurze Ablenkung vor der totalen Konsequenz der folgenden vierzig Jahre.

Ihre Bilder wurden in Paris immer abstrakter, bis die Figuren fast völlig in gespachtelte Farbkonstruktionen umgesetzt waren: "In Paris interessierten mich die alten Häuser, der Flohmarkt und die Clochards mehr als die Künstler. Aber ich wollte den rasiermesserscharfen Intellekt der Pariser Künstler auch nicht ignorieren. Die Formalität meiner fast abstrakten Bilder entstand, weil ich Paris gerecht werden wollte."

In Nigeria fühlte sich Susanne Wenger sofort zuhause; alles schien zu stimmen, und sie ahnte auch in der Universitätsstadt Ibadan (die damals schon fast eine Million Einwohner hatte), dass hier "die Symbole noch gelebt werden", die ihr bisher nur in der Literatur begegnet waren. Aber noch beherrschte sie die Sprache nicht, noch fand sie keinen Zugang zu den Menschen, in denen diese Kultur noch lebendig war. In den ersten Monaten war sie exaltiert und verwirrt zugleich. Die ersten beiden Bilder, die sie in Ibadan malte, waren rein abstrakt: die einzigen wirklich abstrakten Bilder, die sie je gemalt hat.

Im März 1951 erkrankte sie an einer schweren Tuberkulose, die sie neun Monate ans Bett fesselte. Die starken Antibiotika, mit denen man heute diese Krankheit kuriert, waren damals zwar schon entdeckt, doch noch nicht in Nigeria zu haben. Auch in England waren sie noch nicht im Handel.

Die englischen Ärzte an der Universitätsklinik von Ibadan weigerten sich, Susanne Wenger zu behandeln und bestanden darauf, sie "nach Hause" zu schicken. Dass die Künstlerin ihr Zuhause gerade erst in Nigeria entdeckt hatte, werteten sie als neurotische Spinnerei, und keiner der Ärzte konnte verstehen, dass eine Rückkehr nach Europa - gerade zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens - wahrscheinlich ihren Tod bedeutet hätte. Nur der junge Dr. John Karefa-Smart aus Sierra Leone (einer von drei Afrikanern, die damals an der Universität von Ibadan unterrichteten) war bereit, das Risiko einzugehen: er behandelte Susanne Wenger gegen den Willen seiner Vorgesetzten. Monatelang wurde sie mit der beschwerlichen und anstrengenden Methode der Pneumothorax behandelt, bis schließlich der schwarz-amerikanische Gastprofessor Lorenzo Turner das neu entdeckte Streptomecyn aus Amerika kommen ließ, so dass sich ihr Zustand schnell besserte.

Während ihrer Krankheit versuchte sie sich durch das Lesen anthropologischer Bücher ein Bild von der Kultur zu machen, deren magische Ausstrahlung sie auch am Krankenbett zu spüren glaubte. Sie "blätterte nervös in den Büchern herum" und merkte immer wieder, dass die Wissenschaftler zwar viele Fakten zusammengetragen hatten, aber dass das Weltbild, das sie aus diesen Fakten zusammenbasteln wollten, nicht stimmte. Denn: "Irgendwie waren das Spießer".

Da Susanne Wenger den ganzen Tag liegen musste, malte sie auf kleinen Holztafeln, die sie auf den Knien liegen hatte. Es waren sehr intensive, sehr farbige gespachtelte Ölbilder, nur 30 x 40 cm groß, aber monumental 'konzipiert. Auf ihnen wachsen Menschen, Tiere und Götter wie knorrige Bäume in den Himmel. Feuer, Wasser, Erde und Luft greifen aktiv in das `Geschehen ein. Die Mythen sämtlicher Völker und Zeiten vermischen sich hier zu einem wilden Epos von Schöpfung, Tod, Opfer und Wiedergeburt.

Susanne Wenger hat diese Krankheit später ihre "Initiationskrankheit" genannt: die Yoruba Götter spürten ihre Nähe und beanspruchten sie für sich. Um auf die schweren Initiationsriten vorbereitet zu sein, "muss der Körper erst einmal tüchtig durchgebeutelt werden", sagt Susanne Wenger vierzig Jahre später. Damals wusste sie natürlich nicht, was auf sie zukam, aber eine "Vorauserinnerung" muss stattgefunden haben; davon zeugt die fast unerträgliche Spannung dieser Bilder.

Nach der Krankheit zieht Susanne Wenger in die knapp hundert Kilometer entfernte Stadt Ede, in der der Timi (König) ihr die ersten Kontakte zu Yoruba-Priestern vermittelt. Der Timi von Ede war Nachfahre eines berühmten Kriegers, der vor etwa vierhundert Jahren diese Stadt gegründet und sich zum König gemacht hatte. Er war der erste Timi, der eine Schule besucht hat (er war von Beruf Apotheker, bevor man ihn zum König wählte). Er war Christ, wollte aber seine traditionellen Pflichten als Yoruba­-König richtig erfüllen und ließ alle Religionen gelten. Er ging zur Kirche, in die Moschee, und er feierte alle Feste der alten Yoruba-Götter, genauso wie es seine Vorfahren gemacht hatten. Seine alte Tante war die Iya Sango, eine wichtige Priesterin des Donnergottes. In den letzten Jahren ihres Lebens war sie eng mit Susanne Wenger befreundet, und sie war es auch, die Susanne Wenger in die Ogboni Gesellschaft initiierte.

Ogboni ist ein Erdkult, der möglicherweise auf die Urbevölkerung des Landes zurückgeht. Als die Yoruba, von Norden über den Niger kommend, vor tausend Jahren in ihr heutiges Gebiet einwanderten, gründeten sie ihre mit Lehmmauern befestigten Städte in den Wäldern und Savannen, die schon von einer Urbevölkerung bewohnt waren. Sie haben diese Völker erfolgreich in ihre Städte integriert, und deren Häuptlinge oder Könige bekamen wichtige' Funktionen als Priester. Die Eroberer wussten, dass sie in ihren neuen Städten nur leben konnten, wenn sie ein harmonisches Verhältnis zur Erde herstellten. Aber um die Geheimnisse der einheimischen Natur und Vegetation wusste nur die Urbevölkerung. Sie machte sich unentbehrlich, indem sie zunächst die Riten völlig geheim hielt. Mit fortschreitender Integration beider Völker konnten die Yoruba in den Geheimbund eindringen. Bald wurden alle wichtigen Priester und Häuptlinge der Yoruba Mitglieder dieses Kultes, so dass die Versammlungen im Ogboni Haus einer alternativen Regierung glichen. Der Ogboni Bund bildete bald ein Gegenwicht zum König; er war über das ganze Land verbreitet, und die Mitgliedschaft in diesem Bund verschaffte sofort Zutritt zu den Ogboni Häusern in allen Städten.

Susanne Wenger fand sich also sehr bald im Mittelpunkt des rituellen Lebens, und hier lernte sie alle wichtigen Vertreter der Yoruba Kulte kennen. Die Yoruba wissen, dass das Göttliche sich auf verschiedenste Weise manifestieren kann, dass Bäume, Tiere, Flüsse, Felsen und Menschen einem Orisa als Medium dienen können. Sie wissen, dass die Orisa mit ihren verschiedenartigen Temperamenten alle Teilaspekt einer einzigen göttlichen Kraft sind, und dass die Menschen nur dann ein sinnvolles Leben führen können, wenn sie im Einklang mit dem ihrem eigenen Temperament gemäßen Orisa leben. Kein heiliges Buch reguliert die Beziehung zwischen Gott und Mensch - diese muss täglich neu erarbeitet werden. Durch das Kolanuss-Orakel, das jeder Mensch jeden Tag an seinem eigenen Altar ausführt, tastet er sich an den Gott heran, setzt sich mit ihm auseinander und räumt kleine Unstimmigkeiten durch Opfergaben aus dem Weg. Wie in einer Ehe, darf keiner der beiden Partner die Liebe des anderen als Selbstverständlichkeit voraussetzen. Die ununterbrochene Beschäftigung mit dem Orisa, das "fast pausenlose Ritual" erfordern viel Kraft und Integrität, gleichzeitig bereichern sie das Leben des Menschen in dem Maße, in dem er an dem Verhältnis zu seinem Gott arbeitet.

Äußerst schwierig und gleichzeitig sehr ekstatisch wird das Leben für den, der auserkoren ist, den Gott "zu tragen' und zu verkörpern. Die Initiation eines Priesters stellt eine Belastungsprobe für den menschlichen Geist dar, an der ein Unvorbereiteter zerbrechen kann. Einer solchen Belastungsprobe wurde Susanne Wenger ausgesetzt, als sie den Obatala Priester Ajagemo traf. Eines Tages folgte sie vor Morgengrauen den wuchtigen Klängen der Igbin Trommeln, die sie von ihrem Haus in Ede an jedem vierten Tag hören konnte. Sie kam in den Hof eines niedrigen Lehmhauses, in dem eine Gruppe von alten Frauen tanzte. Ein hagerer Mann trat zwischen den breiten niedrigen Lehmsäulen des Porticos hervor, nahm sie bei der Hand und führte sie in das Innere des Schreins. Spontan wussten beide, dass es sich hier um keine zufällige oder beiläufige Begegnung handelte. Da Susanne Wenger zu dieser Zeit noch kein Yoruba sprach, konnte nichts erklärt, diskutiert oder geplant werden.

Susanne Wenger fand nichts Befremdendes oder Unverständliches in dem Ritual des Obatala Kultes. Als ob sie alles aus einer früheren Existenz bereits kannte, fügte sie sich mühelos ein und erstaunte die anderen Frauen durch ihr überraschendes rituelles Wissen. Der Ajagemo akzeptierte sie und gliederte sie in die Gemeinde ein, als hätte er sein ganzes Leben lang auf sie gewartet. Journalisten, die Jahre später über diese Ereignisse in meist sensationslustiger Weise berichteten, haben immer wieder gefragt, wie es denn möglich gewesen sei, dass eine in sich geschlossene Kultur einen "Fremden" so mühelos habe eingliedern können. Dazu muss man wissen, dass Susanne Wenger durch ihre jahrelange Beschäftigung mit Mythen und Schamanen anderer Völker die gelebte Yoruba Mythologie auf einer Ebene begriff, die sie "interhumanitär" nennt. Unter den vielen kulturell bedingten, religiösen Erscheinungsformen, so sagt sie, finden sich allgemeingültige Symbole, die in allen Kulturen zu finden sind.

Ebenso wichtig aber ist die Tatsache, dass die Yoruba von jeher eine besonders tolerante Kultur waren, dass sie alles Fremde und Andersartige nie unterdrückt, sondern eingegliedert haben, weil sie es als Bereicherung des eigenen Lebens empfanden. Auch hatten sie keine dogmatische Gottes-vorstellung: Sie erlaubten unterschiedliche Interpretationen von einem Orisa; denn wenn der Gott sich nur durch ein menschliches Wesen manifestieren kann, dann muss die starke Persönlichkeit eines Menschen sich auch auf den Gott auswirken!

Schließlich fand die Begegnung zwischen Susanne Wenger und dem Ajagemo zu einer Zeit statt, da die Yoruba Religion von allen Seiten bedrängt und bedroht wurde. Der Ajagemo ahnte wohl, dass ihm kein Priester, gleichen Formats nachfolgen würde. Eben dieses Wissen um den drohenden Untergang einer großartigen Kultur gab diesem Menschen tragische Größe, Weisheit und fast übermenschliche Intuition. Beim alljährlichen Obatala-Fest musste im Königspalast ein altes "Passionsspiel" aufgeführt werden, in dem ein Krieg durch Tanz dargestellt wird, der mit der Gefangennahme des Ajagemo endet. Er wird dann vor den König geschleppt, der ihn – anders als Pontius Pilatus in jener anderen Passion – nicht zum Tode verurteilt, sondern freikauft.

Ich habe dieses Fest jahrelang immer wieder miterlebt. Bei jedem Fest wurde der Ajagemo, der seine "Rolle" ja nicht gespielt, sondern gelebt hat, tragischer und vergeistigter. Uralte Mythen wurden hier lebendig, die geistige Energie der Yoruba wurde durch dieses Ritual wie ein Akkumulator wieder aufgeladen, durch diesen unglaublichen Menschen, der in diesen Augenblicken wirklich zum Gott wurde. Bei diesen Festen wird der Priester normalerweise durch die kollektive Konzentration und Energie der Gemeinde getragen. Der Ajagemo musste erleben, dass diese Gemeinde jedes Jahr kleiner wurde, dass die großartigen alten Leute langsam wegstarben, dass eine junge Generation heranwuchs, die mit ihrer "Schulweisheit" immer oberflächlicher und zynischer wurde. Jedes Jahr musste der Ajagemo also mehr eigene Kraft finden und investieren, um das Fest überhaupt noch durchführen zu können. In dieser schwierigen Situation bedeutete das Erscheinen von Susanne Wenger eine wesentliche Stärkung seiner Position: nicht nur, weil sie den zerfallenden Obatala Schrein am Markt wieder aufbaute, oder weil der König ihr einen gewissen Respekt zollen musste, sondern vor allem, weil sie ihre eigene geistige Energie vollkommen in diese Rituale einfließen ließ. Ajagemo schien von Anfang an entschlossen, sie in die Mysterien des Kultes einzuweihen und sie zu einer wahren Olorisa zu machen. Ob er wusste, was er da von ihr verlangte, ist nicht klar. Konnte er ahnen, um wieviel schwerer eine solche Initiation für einen Außenseiter war? War er sich der Tatsache bewusst, dass dieser geistige Prozess für Susanne Wenger durchaus gefährlich werden konnte? Die Künstlerin kann von den Erfahrungen dieser Jahre bis heute nur in Andeutungen reden.

Kern der Yoruba Religion ist nicht die alltägliche Moral; die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen zu ordnen ist Sache der Vorfahren, nicht der Götter. Initiation, Ritual und Trance der Yoruba Religion dienen dazu, die Grenzen zwischen der diesseitigen und jenseitigen Welt blitzartig zu durchbrechen. "Durch die Trance werden die Grenzen der menschlichen Existenz für einen kurzen Moment überschritten. Der Mensch verschafft sich durch diese kühne Grenzüberschreitung die Gewissheit, dass er Teil des schöpferischen Prozesses ist, dass er ein Teil von Gott ist. Und darauf beruht sein Stolz, dass er imstande ist, mehr als ein Mensch zu sein, und darin sieht er seine Größe, dass er den Mut hat, die natürlichen Grenzen seiner Natur zu durchbrechen. Die Trance ist wie eine Invasion von menschlichen Wesen in den Bereich, der normalerweise den Göttern gehört. Von diesen kurzen Streifzügen kehren sie mit göttlicher Beute zurück..."

In den folgenden Jahren konnte die Künstlerin ihr geistiges Gleichgewicht nur dadurch erhalten, dass sie das religiöse Erlebnis, das "metaphysische Abenteuer", immer sofort in schöpferische Tätigkeit umsetzte. Die Ölbilder, die sie in diesen Jahren malte, waren von einer fast unerträglichen Intensität. Sie stellen energiegeladene Rituale dar und sind mit einer beinahe wilden Spachteltechnik in düster leuchtenden Farben ausgeführt. In diesen Bildern lassen sich die seelischen Spannungen jener Jahre deutlich ablesen. Die Initiation, die sich über Jahre erstreckt, wurde zwar nicht – wie das früher einmal der Fall war – in der totalen Abgeschiedenheit eines Initiationshauses vollzogen, doch musste Susanne Wenger jahrelang in einer geistigen und seelischen Isolation leben. Europäische Besucher empfing sie in dieser Zeit praktisch nicht mehr.

Der Ajagemo hat an die Mission von Susanne Wenger geglaubt, er wusste, dass durch sie der Orisa in einer ganz veränderten Form eine Überlebenschance hatte. Als er im Sterben lag, schien er von einer großen Depression befallen. Es war, als hätte er auf einmal alle Hoffnung verloren, als sähe er sich nun tatsächlich als den letzten Ajagemo. Er wollte damals Susanne Wenger in den Tod "mitnehmen" wie dies öfters in der Yoruba Kultur geschieht. Der Tod braucht bei den Yoruba keine rein physische Ursache: er kann durch geistige Kräfte, durch einen "seelischen Beschluss", herbeigeführt werden.

In diesem Augenblick aber schalteten sich andere wichtige Priester ein. Sie waren der Ansicht, dass Susanne Wenger noch eine wichtige Rolle unter den Olorisas zu spielen hatte, und sie veranlassten, dass sie 1956 Ede verließ. Sie lebte zunächst zwei Jahre lang in Ilobu, dann übersiedelte sie nach Oshogbo, wo sie ihre eigentliche Lebensaufgabe fand und wo sie heute noch lebt. In Ilobu begann die Künstlerin sich langsam aus ihrer Isolation zu befreien. Deshalb wandte sie sich einer neuen künstlerischen Technik zu: der Batik. Beim Malen musste sie sich so konzentrieren, dass sie sich vollkommen abschließen musste. Sie konnte nur in einem geschlossenen Raum malen, und das Endprodukt war etwas, mit dem die Yoruba wenig anzufangen wussten. Diese Ölbilder, großartig wie sie waren, konnte man höchstens in Europa ausstellen - aber daran hatte die Künstlerin immer weniger Interesse. Bei der Batik brauchte sie sich nur eine kurze Zeit zurückziehen, während sie am Entwurf arbeitete, aber dann folgte die Ausführung, das Abdecken mit Kassava-Stärke (nach der traditionellen Yoruba-Methode) und das Färben mit Indigo. Sie konnte bei dieser Arbeit, die oft wochenlang dauerte, Besuche empfangen, Kinder konnten im gleichen Raum spielen - das Leben ging ganz normal weiter. Das Indigofärben findet sowieso im Freien (also in der Öffentlichkeit) statt, weil das Sonnenlicht für den chemischen Prozess notwendig ist. Die Menschen sahen ihr gerne bei der Arbeit zu, sie ver­standen sich auf diese Technik und freuten sich, Dass sie da jemand zu ganz neuen Zwecken verwendete. Sie beurteilten Susanne Wengers Arbeiten zwar nicht nach ästhetischen Kriterien, aber sie unterhielten sich angeregt über die Mythen, die dargestellt waren, und die sie alle kannten - auch die Christen und Moslems.

1958 zog Susanne Wenger nach Oshogbo; äußerer Anlass dieses Umzugs war eigentlich nur das Vorhandensein eines großartigen "barocken" Steinhauses, das ihr Platz für die vielen Kinder bot, die sie adoptierte. Der wahre Grund war sicher, Dass ihr bis jetzt so spannungsreiches Leben die heilende Ruhe der Flussgöttin Osun brauchte.

Der Osun Fluss zieht sich durch einen großen Teil des Yorubalandes, aber nirgendwo ist er so geheimnisvoll schön, und nirgendwo fühlt sich die Göttin gleichen Namens so wohl wie in Oshogbo. Von der Gründung der Stadt an hat sie die Geschichte Oshogbos beherrscht. Der erste Ataoja schloss einen Pakt mit der Göttin: sie versprach seine Stadt zu schützen, wenn er ihren heiligen Hain am Fluss respektierte. Dort durften keine Wohnhäuser und Farmen gebaut werden, keine Tiere gejagt und Fische gefangen werden. Nur die anderen Götter durften in diesem Wald ihre Schreine bauen. Die Stadt Oshogbo ist auch in den Kriegen des 19. Jahrhunderts nicht zerstört worden. Sie wurde zur neuen Heimat für Tausende von Flüchtlingen, die von den vom Norden her einfallenden Moslemischen Armeen aus ihren Städten vertrieben wurden.

Als Susanne Wenger nach Oshogbo kam, regierte dort der Ataoja (König) Adenle, der zwar Christ war, aber dennoch den Pakt mit der Göttin einigermaßen respektierte. Das jährliche Osun-Fest, bei dem er die Fische (Boten der Göttin) füttern musste, um den Pakt zu erneuern, beging er noch mit einer gewissen Würde. Entscheidend für Susanne Wengers Leben in Oshogbo war die Freundschaft mit Layi Olosun, einem der letzten großartigen Osun Priester. Obwohl Susanne Wenger bis heute eine Priesterin des Schöpfergottes Obatala blieb, entwickelte sich ein immer engeres menschliches Verhältnis zu den Osun Priestern und zu dem heiligen Fluss selbst. Layi Olosun brachte erst eins, dann nach und nach alle seine Kinder in das Haus von Susanne Wenger. Er verstand sehr wohl, Dass er seine Kinder nicht von den sozialen und 'kulturellen Veränderungen isolieren durfte. Ohne zumindest eine oberflächliche Kenntnis der westlichen Werte, die sich rapide und aggressiv im Lande ausbreiteten, hatten sie im Leben keine Chance. Andererseits war es ihm eine grauenhafte Vorstellung, Dass seine Kinder ohne Orisa aufwachsen sollten. Wenn es eine Chance gab, Dass sie die Gegensätze in ihrem Leben irgendwie überbrücken könnten, dann als Adoptivkinder Susanne Wengers, denn sie hatte ja - von der "anderen" Seite her - das gleiche Problem gelöst. Einige ihrer Zöglinge sind inzwischen auch Künstler geworden, und einer von ihnen ist in diesen schweren Zeiten ein Olorisa von großer Stärke und Integrität geblieben. In Oshogbo begann Susanne Wenger Wachsbatiken zu machen. Die Yoruba­-Methode, die Fläche mit Kassava-Stärke abzudecken, erlaubt dem Künstler nur einen einzigen Färbeprozeß, denn wenn die Stärke trocknet, zerknüllt sie den Stoff, so Dass sich keine weiteren Flächen mehr abdecken lassen. So vielfältig die Schattierungen des Indigo auch sind, so sehnte sich Susanne Wenger doch nach so vielen Jahren monochromer Kunst wieder nach Farbe. Bei der Wachsbatik bleibt der Stoff glatt, so Dass sich beliebig viele Färbeprozesse durchführen lassen.

Soweit ich weiß, hat sie diese Technik im Yorubaland eingeführt, und in ihrem Haus lernten etliche heute sehr bekannte Yorubakünstler. Der erfolgreichste unter ihnen - Sangodare - hat Wachsbatiken mit dreiundzwanzig Farben gemacht. Susanne Wenger macht bis heute Wachsbatiken, die sie gelegentlich auch verkauft, um ihre Kinder zu ernähren und um ihre Arbeit am Fluss zu finanzieren. Seit fast dreißig Jahren aber dient ihre Arbeit nur noch den Göttern selbst. In einem gigantischen Einsatz hat sie die zerfallenden Schreine im Heiligen Hain der Göttin Osun repariert, und sie hat auch an den heiligen Stätten Schreine gebaut, wo vorher nie welche gestanden haben. Als der Priester Layi Olosun sie 1963 bat, ihm zu helfen, die zerfallenden Schreine am Fluss wiederaufzubauen, konnte er kaum ahnen, was für eine einflussreiche künstlerische Bewegung er damit auslöste. Ihm ging es damals in erster Linie darum, die heiligen Haine vor Bodenspekulanten und fanatischen Moslems zu retten. Immer wieder hatte man versucht, die Bäume zu fällen und das Land zu kommerziellen Zwecken zu verwenden. Schon war ein Teil des Waldes in eine Teak-Plantage umgewandelt worden, schon war eine Koranschule auf dem heiligen Grund errichtet worden. Und seit Jahren kümmerten sich weder Jäger noch Fischer um die alten Tabus. Es schien fast unvermeidlich, Dass die heilige Stätte den Gesetzen der Marktwirtschaft und dem religiösen Fanatismus zum Opfer fallen musste.

Layi Olosun wollte der Stadt beweisen, Dass die Rituale im heiligen Hain nach wie vor zelebriert wurden, auch wenn die Priester verarmt waren. Susanne Wenger ließ zuerst den Hauptschrein der Göttin Osun am Fluss reparieren und begann dann eine Lehmmauer um den Wald zu ziehen, um wenigstens die Grenzen zu markieren. Die Maurer, die sie dazu anstellte, waren zwar Moslems (zumindest dem Namen nach), doch wurden beide von der heiligen Stätte inspiriert: Ob es die uralten Bäume waren, der geheimnisvolle Fluss oder die Göttin selbst, die sie inspirierte - jedenfalls begannen sie kleine Relief-Figuren (zuerst ganz schüchtern und unauffällig) an den von ihn errichteten Lehmwänden anzubringen. Susanne Wenger erkannte in diesen zum Teil noch ungeschickten Figuren sofort das künstlerische Potential. In kurzer Zeit wurden Ojewale Amoo und der inzwischen verstorbene Laani zu bedeutenden Künstlern. Bald kamen die Zement-Plastiker Adebisi Akanji und Saka dazu, sowie die Holzschnitzer Buraimoh Gbadamosi, Kasali Akangbe und Rabiu Abesu. Zwei Frauen, Foyeke und Shongo Tundun bemalten die Schreine mit traditionellen Symbolen. Seit zwanzig Jahren arbeitet diese, von Susanne Wenger "New Sacred Art" genannte Gruppe, im Heiligen Hain der Göttin Osun. Immer neue Schreine wachsen wie gewaltige pflanzliche Wesen aus dem Boden. Riesenhafte Plastiken winden sich wie knorrige archaische Bäume. Wie die Rachen von vorsintflutlichen Tieren öffnen sich Torbögen, die in die einzelnen heiligen Haine führen.

Wer traditionelle Yoruba Architektur und Plastik kennt, ist zunächst verwirrt von der Andersartigkeit dieser Kunst, die doch den gleichen Göttern dient. Traditionelle Yoruba Schreine liegen schwer und erdnah auf dem roten Boden. Die rechteckigen Säulen, die dicke Lehmwände tragen, sind so niedrig, Dass man sich bücken muss, um in das Heiligtum einzutreten. Die Strohdächer sind eher flach; die Gebäude fügen sich bescheiden in die Landschaft ein. Manche haben geschnitzte Säulen oder Türen, andere sind außen mit hieroglyphenartigen Formen bemalt, die eine Botschaft des Gottes darstellen. Diese Architektur strahlt große Ruhe aus: Sie ist durchaus einfach, sie hat keine überflüssigen Ornamente, nichts zielt auf Effekt, es entsteht der Eindruck von stiller Harmonie.

Die Gebilde, die Susanne Wenger unter Mithilfe von Adebisi Akanji im Wald errichtet hat, sind dagegen dramatisch und unerhört vielfältig in den Formen. Kein Gebäude gleicht dem anderen, jedes leitet seine Form aus der religiösen Funktion ab, der es dienen soll. Wie vorsintflutliche Riesenechsen recken sich die drei Giebel des Ogboni Hauses in den Himmel. Die lang gestreckten Wellblechdächer haben die Lebendigkeit von zuckenden Tierhäuten. Die von geschnitzten Säulen getragenen Giebel erinnern eher an ein "Haus Tamaran" (Initiationshaus) am Sepik Fluss, doch haben sie nicht die formale Strenge jener Initiationshäuser. Im Gegenteil: Aus der Fassade des Gebäudes wuchern die Plastiken ungezähmt und dschungelartig hervor. Selbst der Fußboden wogt und wellt sich, als sei die Erde gerade erst geschaffen worden und müsse sich erst langsam auf dem Urmeer zurechtbetten. Im Gegensatz zu diesem dramatischen Gebäude, in dem die Erdgöttin verehrt wird, wirkt der Schrein von Osun Busayin eher intim; die Säulen des Porticos wuchern hier wie exotische Geschöpfe, die am Meeresboden zu Hause sein könnten. Die Freiräume zwischen den Säulen sind zu sich unregelmäßig windenden Öffnungen geworden, wie riesenhaft vergrößerte Behausungen eines Korallenstocks. Die Formen sind unglaublich flüssig, und man hat den Eindruck, dass sie sich ständig verändern. Der Schrein für Orisa Ajagemo ist weniger ein Gebäude als eine Plastik, in die man hineingehen kann. Die hohe, turmartige Fassade setzt sich aus zwei riesigen ineinander verflochtenen Gesichtern zusammen. Dieses spannungsreiche Gebäude symbolisiert die Begegnung von Obatala und Sango - zwei sehr gegensätzlichen Orisa, die sich lieben, die aber im Allgemeinen getrennte Wege gehen müssen. Sango ist extrovertiert, sprunghaft, wild und großzügig - Obatala ist weise, mild, philosophisch und unendlich geduldig. Die kurzen Begegnungen dieser Orisa sind wie eine Annäherung von Antipoden, bei denen sich elektrische Spannungen entladen und Funken sprühen. Ein ähnlicher Gegensatz besteht zwischen den riesigen Zementplastiken von Susanne Wenger, die in den heiligen Hainen überall aus dem Boden wuchern, und den verhältnismäßig kleinen Yoruba Holzplastiken, die früher einmal die Altäre der Yoruba Orisa schmückten.

Yoruba Plastiken waren statisch: das Körpergewicht war gleichmäßig auf beide Beine verteilt, die Arme lagen ruhig an der Seite. Weder die Körperachse noch der Kopf zeigten eine Drehung. Keine Handlung wurde dargestellt, keine Emotionen wie Freude, Zorn oder Trauer. Die Gesichter strahlen in totaler Ruhe, wie in Trance; die überdimensional großen, hervorquellenden Augen sehen uns nicht an, sie sehen an uns vorbei, interessieren sich nicht für den Alltag. Die besondere Qualität, auf die es dem Yoruba Schnitzer ankam, hieß "tutu", wörtlich: Kühle. Gemeint ist die völlige Harmonie, die der Olorisa durch den ständigen Umgang mit seinem Gott erlangt. Wenn der Mensch, nach den immer wieder entstehenden und gelösten Spannungen, völlig eins ist mit seinem Gott, dann erlangt er jenen Zustand, den Susanne Wenger mit dem Begriff "dynamic relaxation" beschreibt.

Susanne Wengers Plastiken sind dagegen unruhig, voller Handlung, voller Bewegung. Der drei Meter hohe Alajere tanzt! Sein schmaler Körper ist fast horizontal nach vorne geneigt, die Arme sind ausgebreitet, der riesige Kopf mit den enormen Augen balanciert auf einem dünnen Hals. Nicht Ruhe, sondern Ekstase stellt die Plastik dar, und die Künstlerin fügt sich nicht in die natürlichen vom Material gesetzten Grenzen; sie fordert das Material bis zur absoluten Grenze des Möglichen heraus. Die langen dünnen Arme der Iya Mapo (der Töpfergöttin), die sich meterlang horizontal in die Luft strecken, scheinen alle Gesetze der Statik zu durchbrechen. Diese Riesenplastik stellt eine Urmutter dar, die wie ein gewaltiger Baum aus der Erde ragt. Mit ihren dünnen Armen tastet sich die aus dem tiefen Schoß der Erde Emporgestiegene ans Licht heran. Aus ihrem Rücken sprießen flügelartige Gebilde, die sie aber – wie die Luftwurzeln eines Banyan Baumes – noch fester in der Erde verankern. Während die Künstlerin beim Orisa Ajagemo eine plastische Form um einen Innenraum geknetet hat, gräbt sie hier eine kleine Kammer in den Riesenleib hinein, in dem die Rituale der Iya Mapo stattfinden können.

Manche Besucher haben gefragt, ob solche Plastiken und solche Gebäude das Wesen der Yoruba Religion angemessen ausdrücken können, wenn sie doch in einem so totalen Gegensatz zu dem stehen, was Yoruba Künstler selbst über Jahrhunderte geschaffen haben. Es ist leicht, voreilige Schlüsse zu ziehen. Es ist von Verfremdung gesprochen worden, von deutschem Expressionismus mitten in Afrika, sogar das böse Wort "Kulturimperialismus" ist gefallen. Dabei wird vergessen, Dass seit mindestens fünfzig Jahren in Oshogbo keine Plastiken mehr geschnitzt worden sind. Wie ein hochempfindliches Barometer registrierten die Künstler schon den Zusammenbruch der alten Yoruba Kultur, ehe dieser offensichtlich war. Ohne Susanne Wengers "New Sacred Art" gäbe es heute überhaupt keine Kunst in den Schreinen – ja es gäbe keine Schreine, und es gäbe nicht einmal den heiligen Hain. Ohne diese Aktivitäten wäre der Wald längst abgeholzt und somit jede Möglichkeit einer kulturellen Wiedergeburt vertan.

Man darf auch nicht vergessen, Dass es heute ein Dutzend Yoruba Künstler gibt, die alle im Umkreis von Susanne Wenger neue sakrale Kunst machen. Keiner von ihnen hätte ohne sie eine künstlerische Aufgabe gefunden, und was in diesem Zusammenhang noch wichtiger ist: keiner von ihnen arbeitet wie ein traditioneller Yoruba Künstler. Die hohen geschnitzten Pfosten von Buraimoh Gbadamosi winden sich unruhig hin und her und strahlen eine spannungsvolle Unruhe aus, die bei einem traditionellen Schnitzer unmöglich gewesen wäre. Kasali benutzt für viele seiner Plastiken "objets trouves": Er lässt sich von der natürlichen Form eines Astes oder einer Wurzel inspirieren, was für einen alten Yoruba Schnitzer eine unvorstellbare Arbeitsmethode gewesen wäre. Die Yoruba Kunst entstand in einer Zeit, als die Existenz der Götter so selbstverständlich war, Dass die Formulierung "Ich glaube an Sango" widersinnig gewesen wäre, weil sie ja die Möglichkeit des Zweifels einschließt. In einer Zeit, in der die Götter verlassen, ignoriert, verspottet und geschändet sind, kann kein Künstler mehr mit einer solchen Selbstverständlichkeit und einer solchen selbstsicheren Ruhe arbeiten. Die Konflikte des Lebens spiegeln sich auch in der Kunst wieder. Die Künstler der "New Sacred Art" Bewegung drücken - jeder auf seine Weise - diese Spannungen aus. Wenn die Yoruba Religion überhaupt noch eine Überlebenschance hat, so deshalb, weil sie keinen starren Kodex, kein heiliges Buch mit Vorschriften und Verboten erfunden hat. Die Yoruba Religion ist ungeheuer flexibel und anpassungsfähig, sie gesteht jedem starken Priester das Recht zu, seinen Gott auf seine Weise zu interpretieren und zu verkörpern. In der Yoruba Religion sind Gott und Mensch voneinander abhängig. Nur durch eine sich wandelnde Kunst kann die Religion am Leben bleiben. In einer Zeit, in der die Rituale seltener werden, weil die Gemeinde auf ein kleines Häufchen zusammengeschrumpft ist und das modernisierte Leben das "pausenlose Ritual" unmöglich macht, nimmt die Kunst einen immer wichtigeren Platz ein. Für Susanne Wenger ist die "New Sacred Art" eine Energie-Quelle, die das Ritual ersetzt.

In den letzten Jahren ist die künstlerische Betätigung am Fluss buchstäblich zur rituellen Handlung für Susanne Wenger geworden. Die große Ifa Plastik, an der sie schon seit mehr als sechs Jahren arbeitet, wuchert und verschlingt sich in immer neuen Konvoluten, als wehre sich hier eine Pflanzen- oder Tiergattung aus einer vergangenen Ära gegen das Aussterben. Diese Plastik ist nicht als Kunstobjekt konzipiert, das eine bestimmte vorgefasste Form hat, die irgendwann durchgeführt und vollendet werden muss. Pflanzenartig treibt sie immer neue Sprossen und Ausläufer in einem Wachstumsprozess, der endlos ist wie die Natur selbst. Die Arbeit an dieser Plastik ist wie der Dienst am Leben selbst; sie ist rituelle Handlung, die Energien freisetzt, von denen der Orisa lebt. Hier ist der Arbeitsprozess wichtiger geworden als das Kunstwerk selbst.

Die Aktivitäten von Susanne Wenger haben auch in Nigeria manchen Widerstand hervorgerufen, immer wieder haben Bodenspekulanten versucht, die Bäume abzuholzen und Wohnblocks am heiligen Fluss zu errichten, immer wieder ist die Künstlerin von fanatischen Moslems bedroht worden. Manchmal haben sie ihre Schreine zerstört, aber wie der Schöpfergott, dem sie dient, hat sie ihre Gegner durch Geduld und Beharrlichkeit besiegt. Zerstörte Schreine baut sie wieder auf, weil sie glaubt, der zweite Schrein würde vielleicht noch schöner als der erste. Die größere Gefahr droht von denen, die es gutmeinen: Wohlwollende Regierungsbeamte haben einen Plan vorgelegt, nach dem der Hain als Touristenattraktion ausgebaut werden soll (mit Coca-Cola-Kiosk!), damit er auf diese Weise erhalten bleibt. "Dummheit ist gefährlicher als Bosheit", sagt die Künstlerin dazu. Sie hat gelernt, Dass man solche Gefahren einfach "aussitzen" kann, denn am Ende versickern solche Pläne doch bei den Bürokraten unter einem Wust von Papier.

Unterstützt wurde sie immer wieder vom Nationalmuseum (man erklärte den Schrein zum "National Monument" und bezahlt zwei Aufsichtspersonen) und dem Ministerium für Forstwirtschaft. Viele nigerianische Familien besuchen den Hain, um ihn zu bestaunen, aber junge Leute sehen hier auch ein Symbol für einen wiedererwachenden Stolz auf die Yoruba Tradition. Immer mehr Besucher kommen aus Amerika und Europa. Schwarze Amerikaner, die sich in Kuba in Yoruba Kulte initiieren lassen, machen regelrechte Pilgerfahrten. Aber auch viele junge Europäer (Künstler, "Grüne", Aussteiger) kommen, eher als Pilger denn als Touristen. Obwohl die meisten von ihnen im europäischen Alltag ohne Religion leben, empfinden sie in dem Hain etwas, was einem religiösen Erlebnis gleichkommt. Zumindest spüren sie etwas von dem, was diese großartige Kultur einmal war. Und sie merken ganz plötzlich, was ihnen in ihrer technologisierten Gesellschaft fehlt. Der amerikanische Anthropologe Melville Herskovits hat einmal empört gesagt, Susanne Wenger zerstöre mit ihrer Arbeit die "laboratory conditions" für die anthropologische Forschung. Damit hat er Gott sei Dank recht!
Ulli Beier

Das metaphysische Abenteuer 
Aus einem Gespräch das Ulli Beier (U) mit Susanne Wenger (S) im Januar 1990 führte

U: Kein anderer Europäer ist so tief in die Yoruba Kultur eingedrungen wie Du. Und es ist sicher in Afrika einmalig, dass jemand in einen afrikanischen Kult initiiert wird und dann innerhalb dieser Gemeinde eine führende Rolle spielt. Man darf sich nicht wundern, dass viele Leute Schwierigkeiten mit Deiner Lebensform hatten. Manche Europäer betrachteten sie als eine Art Verrat an der eigenen Kultur und Tradition, etwa so, wie wenn ein Jude sich taufen lässt und von der eigenen Religion "abtrünnig" wird.

S: Nun ja, so sehen es die meisten Journalisten.

U: Aber es ist ja nicht so, dass man das eine gegen das andere vertauscht; es ist doch eher so, dass man das Bewusstsein erweitert, und dass man mehr Dinge in die Erfahrung und die Erkenntnis einbezieht. Etwa so wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, und der immer weitere Kreise zieht. Wie kam es also dazu, dass Du diesen Weg eingeschlagen hast. Denn Du kamst ja nicht unvorbereitet hierher. Es war ja kein Zufall... Und wie war es den Yoruba möglich, einen Fremden, der so viele Interpretationen in ihre Kultur einbringt, zu akzeptieren. Denn zu einer Symbiose gehören immer zwei. Wie konnte also Dein früheres Leben logisch zu dieser geistigen Entwicklung führen?

S: Ich war natürlich Europäer und sogar besonders intensiv Europäer, aber ich habe nicht in einem europäischen Lager gestanden, das sich gegen andere Dinge abgrenzt. Und ich war sicher auch nicht die Einzige, die sich mit der europäischen Kultur nicht ganz identifizieren konnte. Wir konnten die religiöse und kulturelle Situation nicht wirklich durchschauen, wir haben nur ein Unbehagen verspürt. Und wir gaben diesem geistigen Unbehagen Ausdruck, indem wir gegen die Generation unserer V er rebellierten...

U: Man kann doch sicher sagen, dass in den letzten zweihundert Jahren jede europäische Generation gegen die vorangegangene protestiert hat.

S: Bei mir war das so: Ich hatte mir schon als ganz kleines Kind bewusst und schlau meine "solitude" erzwungen. Ich hatte mir dieses winzige Dienstbotenzimmer ausgebeten, das auf der anderen Seite des Hauses lag. Die kleinere Wand bestand fast nur aus einem schmalen Fenster und davor standen drei große Fichten, die, wie ich behaupte, meine einzigen Lehrer waren - zumindest die einzigen, denen ich geglaubt habe. Ich weiß nicht, ob das Alleinsein einfach in meiner Natur liegt, oder ob ich die Einsamkeit gebraucht habe, um diese Probleme wälzen zu können ... aber ein kleines Kind, das sich nächtelang fragt, ob es Gott gibt oder nicht, das ist eigentlich grotesk. Man kann das nur verstehen, wenn man sich erlaubt, an Wiedergeburt und Kontinuität zu glauben; dann ist das eben eine unerledigte Sache aus einer früheren Existenz. In welcher Form das gewesen sein mag, ist schwer zu sagen, weil es vielleicht nicht nur eine Existenz war, aus der diese Probleme gewachsen sind. Wenn ich ein naturgegebenes Talent hatte, die Yoruba Kultur zu begreifen und mich auch in sie zu integrieren - unter großen Gefahren - dann ist das nur durch dieses vorgeburtlich geistige Erbgut zu erklären. Diese ewige Frage, dieses Sich-quälen um die Form Gottes - das klingt so europäisch, ist es vielleicht aber nicht. Es ist wahrscheinlich das Kernproblem des Menschen an sich: er wird mit seiner eigenen Heiligkeit nicht fertig, weil er ja auch ein Schweinehund ist. Unser Problem fängt damit an, dass das Christentum und andere Religionen die Moral - deren Wert ich ja nicht abspreche - zum Hauptprinzip des religiösen Lebens machen. Man betet Christus an, weil er ohne Sünde ist, und weil er ohne Sünde geboren wurde.

Das, was das Heiligste in anderen Religionen ist - das Kernwunder des Lebens überhaupt - wird da plötzlich eine Sünde. Und da fängt es an! Die Fragwürdigkeit der europäischen Kultur fängt ja nicht mit der Teilung des Atoms an, sondern mit der Zersplitterung des Sakralen. Kein Wunder, dass die Welt nicht mehr kann... dass sie sich vielleicht nur unter großen Schwierigkeiten noch einmal hochrappeln kann. Mein Kindergebet "Lieber Gott, sei mir nicht böse, dass ich nicht an dich glaube" ist natürlich auch ein Stichwort, das den Menschen in Trab bringt, damit er die Wahrheit suchen geht. Dieser Widersinn ... dass du dich an die Gottheit wendest und gleichzeitig ein Geständnis ablegst, "Für mich gibt es dich nicht." Dieses Krankhafte bereitet den Menschen natürlich schon darauf vor, die Wahrheit woanders zu suchen. Diese Dinge sind natürlich nicht rational geplant - aber es geschieht einfach. Was mich früher schon immer sehr intensiv beschäftigt hat, ist ja nicht spezifisch europäisch, sondern "interhumanitär." Andererseits: wenn man die Schriftsteller aus der Generation unserer Väter liest, was die für Dinge gewusst haben! Obwohl sie einem die Wahrheit so "verpacken", dass man sich wundert, wie ein Netz von so sentimentalen Geschichten einen so starken Gedanken tragen kann.

Da denk ich besonders an Jacob Wassermann: er beschäftigte sich im dritten Band seiner Trilogie9 sehr viel mit dem Tod. Da ist dieser Arzt, der geht in ein Land im fernen Osten - ich weiß nicht mehr genau, welches das war - um vor seinen ganz persönlichen Problemen zu fliehen. Der sagt da übrigens Dinge über den europäischen Kolonialismus, die sind so klipp und klar, dass man sich wundert, dass der Kolonialismus so lange Bestand hatte, wenn einer, der doch ein typischer europäischer Denker war, das alles schon so deutlich gesehen hat! Jedenfalls sagt dieser Arzt auch erstaunliche Dinge über Krankheit und Tod; nämlich, dass der Mensch mit seinem Tod von Anfang lebt und dass Krankheit und Wahnsinn nur unreifer Tod sind! Was brauchst du mehr, um Sonponna zu verstehen, als dass du diesen Satz liest. Als dass du begreifst, wie unglaublich primär diese Erkenntnis ist.

Es war für mich also nicht sehr schwer, gewisse Yoruba Ideen zu begreifen - sie waren mir nicht fremd. Ich erzähl das nur, um zu erklären, dass sich meine geistige Einstellung überhaupt nicht zu verändern brauchte.

U: Diese Einsicht Jacob Wassermanns ist wirklich erstaunlich, denn Sonponna ist bestimmt der- Yoruba Orisa, den die Europäer am wenigsten verstehen konnten. Die Engländer haben diesen Kult ja auch als einzigen Yoruba Kult verboten. Vielleicht ist das nicht so verwunderlich, denn wenn man aus einer Kultur kommt, in der Krankheit immer nur ein Unglück ist und nicht, wie bei den Yoruba, ein Weg zu einer besonderen Erkenntnis, dann fürchtet man sich leicht vor einem Gott, der mit den sogenannten "heißen" Krankheiten, also den Fieberkrankheiten und vor allem den Pocken, assoziiert wird. So kam es dann zu der grausamen Ironie, dass gerade Priester, die soviel vom menschlichen Leiden wissen, und deren Aufgabe es ist, menschliches Leiden in positive Energie zu verwandeln, beschuldigt wurden, die Pockenkrankheit zu verbreiten. Das führt uns zu Deiner Initiationskrankheit oder Deiner "schamanischen Vorbereitungskrank­heit", wie Du es manchmal nennst. Im Dezember 1950 kamst Du zum ersten Mal nach Nigeria. Bereits im Frühjahr '51, wenn ich mich recht entsinne, bist Du an einer Tuberkulose erkrankt, und Du musstest neun Monate liegen. In welcher Weise hat Dich diese Krankheit nun auf die Begegnung mit der Yoruba Religion vorbereitet?

S: Das liegt im Grunde genommen viel weiter zurück. Als ich nach dem Kriege in Wien in einem Lift abstürzte, hat der Arzt festgestellt, dass eine Kindertuberkulose durch diesen Sturz ausgebrochen war. Und er hat zu mir gesagt: "Überleben wirst du das schon, aber du musst etwas dagegen tun." Ich hab mich aber dagegen gewehrt und hab gesagt: "Dafür hab ich noch keine Zeit, das kommt später dran", weil ich mir diese Krankheit unbewusst für Ibadan aufgehoben habe. In den ersten Wochen in Nigeria habe ich schon gespürt, dass da eine ganz starke lebendige Kultur ist, aber noch fand ich die entscheidenden Kontakte nicht.

U: Du warst ja auch auf dem Universitätsgelände in Ibadan und diese Stadt hatte damals schon fast eine Million Einwohner!

S: Manchmal brachten Leute Gegenstände ins Haus zum verkaufen, und obwohl ich damals keine Ahnung hatte, was das war, spürte ich die ungeheure starke sakrale Ausstrahlung dieser Objekte. Wie ich da monatelang auf der Veranda lag, versuchte ich durch Bücher irgendwelche Einsichten zu bekommen. Ich entsinne mich noch, dass ich den Herskovitz las; aber ich habe gemerkt - es stimmt nicht. Er hatte zwar brav das Material zusammengetragen, und man hat nervös darin herumgewühlt - aber gespürt hat man schon, dass der ein Spießer ist. Er ist ja auch einer von denen, die sich gegen mich ausgesprochen haben.

U: Ja, als er Deine Arbeit im Osun sah, hat er gesagt: "This is terrible, she is destroying laboratory conditions."

S: (lacht) Aus seinem Blickwinkel hat er tatsächlich vielleicht recht. Ich glaube ja auch an die Agbalagbas10, die, wie die Peju, sich hinsetzen und sterben, weil ihnen das Leben zu blöd geworden ist. Sie war im Palast gewesen, und ich weiß nicht, was sich zwischen ihr und dem Ataojall abgespielt hat, aber sie hat sich mit ihrem heißen Sonponna Temperament geärgert. Auf dem Weg nach Hause hat sie zu den Kindern, die unten Fußball spielten, gesagt: "Sagt der Adunni, sie soll sofort zu mir kommen." Die haben weiter Fußball gespielt und haben's vergessen. Als es dunkel war, habe ich auf einmal gespürt, dass ich zur Peju gehen muss. Die Leuten haben mich gewarnt: "Du bist ja wahnsinnig, es ist stockdunkel. Es ist zu gefährlich." Damals wurde abends verdunkelt, denn es war die Zeit des Bürgerkrieges. Ich bin aber trotzdem losgegangen. Unterwegs traf ich einen Mann mit einer Machete in der Hand, der wissen wollte, was ich noch so spät auf der Straße machte. Er war einer der politischen Führer in der Stadt. Er ließ mich dann gehen, aber er hat mich eine ganze Weile aufgehalten. Auf einmal konnte ich dann nicht mehr weiter. Mir wurde ganz schwach, und ich musste mich in den Straßengraben setzen. Schließlich bin ich - mehr oder weniger auf allen vieren - nach Hause gekrochen. Das war der Moment, wo die Peju die Geduld verlor; sie hat sich hingesetzt und ist gestorben.

U: Das ist eigenartig. Denn ich erinnere mich, dass mit der Iya Sango in Ede etwas ganz ähnliches passiert ist. Das muss damals gewesen sein, als Du zu deiner ersten Pariser Ausstellung nach Europa fuhrst. Sie wollte ganz genau wissen, an welchem Tag Du wieder nach Ede kommst.

S: Ich habe es ihr gesagt, und ich habe meine Verabredung auch eingehalten, aber auf der Fahrt nach Ede hat der Motor Feuer gefangen und ich musste irgendwo übernachten. Als ich am nächsten Morgen nach Ede kam, haben mich die Leute mit "Eku pele Iyare" begrüßt`. Sie starb genau zu dem Zeitpunkt, an dem ich hätte zurück sein sollen! Erst später wurde mir klar, warum das so sein musste: weil meine Bindungen zu solchen Menschen so elementar sind, dass ich mit ihnen sterben würde ... Beim Ajagemo war das natürlich alles noch viel stärker. Du weißt noch, wie ich in Ilobuls so furchtbar krank wurde und fast gestorben bin, die Füße waren ja schon ganz kalt. Da kam der Ajagemo angerannt und hat gesagt: "Spiel mir keinen bösen Streich, ich bin noch nicht fertig" - das heißt, dass er einen gemeinsamen Tod wollte. Später, als er dann selbst im Sterben lag, weil er einen Gehirntumor hatte, ging ich zu ihm nach Ede. Aber nach ein paar Tagen hat der blinde Sonponna Priester, der mich genauso geliebt hat wie der Ajagemo, den Bakare zu mir geschickt und hat gesagt: "Du musst sofort weg von hier ... du bist in großer Gefahr." Und als wir uns von Baba Sonponna verabschiedet haben, sagte er: "Du musst jetzt etwas aufschreiben." Er hatte mir vorher schon einmal eine Inkantation beigebracht, die schützt vor Zauberei und anderen negativen telepathischen Einflüssen.

Ich hatte die Formel noch im Kopf, aber er fing an, dem Bakare die Worte zu diktieren. Ich sagte zu ihm: "Baba, du brauchst es ihm nicht zu diktieren, der Bakare hat ein sehr gutes Gedächtnis." Aber er antwortete: "Nein, du musst es aufschreiben." Vielleicht hat er, wie manche alten Leute, einen Zauber im Vorgang des Schreibens selbst vermutet. Jedenfalls hat der Bakare es aufgeschrieben, und als ich in Oshogbo ankam und meine Bücher auspackte und ins Regal stellte, da hab ich den Zettel zusammengefaltet und in eins der Bücher gesteckt. Nachts hatte ich dann einen sehr dramatischen Traum: ich befand mich in meinem alten Haus in Ede, und dieses kleine Flüsschen vor dem Haus, das nur in Regenzeiten ein bisschen Wasser führt, war zu einem reißenden Strom geworden. Ob das nun der Osun war, der bald darauf eine so wichtige Rolle in meinem Leben spielte, weiß ich nicht. Da war eine riesige Wand von riesigen Edan16, und diese Bronzefiguren haben so geschwankt, dass die Gefahr bestand, sie könnten auf mich fallen oder in den Fluss stürzen. Die Edan haben mir dann befohlen, dass ich endgültig aus Ede weg müsse (obwohl ich die Stadt doch schon verlassen hatte). Dann wurde ich mit Stöcken geprügelt, aber ich konnte nicht sehen, von wem. Jedenfalls bin ich aufgewacht und war voller blauer Flecken; und der Zettel mit der Inkantation war in winzige Fetzen gerissen und im ganzen Zimmer verstreut! So haben die Agbalagbas die Gefahr endgültig von mir abgewendet, weil ich eben nicht mit dem Ajagemo zusammen sterben sollte. Ich sollte eben genau die Aufgabe erfüllen, gegen die Herskovitz war.

U: Ursprünglich war es aber doch der Plan des Ajagemo, dass Du diese Ar­beit machen solltest...

S: Ein Plan war es eigentlich nicht, aber er hat es vorausgesehen, und er fand es gut. Es ging nicht von ihm aus in dem Sinne, dass er zu mir gesagt hätte: Tu dies und das wie bei einem Etutu. Letzten Endes ist das Ganze ja wie ein Etutu.

U: Wie meinst Du das?

S: Nun ja, das Etutu ist das kleine Opfer zum Herstellen der Harmonie. Ebo ist das große Opfer zum Aufladen der geistigen Energie.

U: Etutu ist also das, was "tutu" – Kühle, Ausgewogenheit und Harmonie – erzeugt...

S: Im weitesten Sinne. Die hitzigen Situationen werden dadurch vermieden, dass du während des Rituals total in die Situation eingebettet bist. Dich interessiert dann nur, was das Orakel dir aufträgt.

U: Dem Olorisa kommen also nie irgendwelche Zweifel an der Gültigkeit und Notwendigkeit dieser rituellen Handlungen. Aber wie ist das nun bei Dir – denn Du hast ja im Gegensatz zu ihnen fast unbegrenzte Vergleichsmöglichkeiten. 

S: Ich weiß eben zuviel von den Dingen, die dahinter stehen, und ich kann das Ganze dann auf einer interhumanitären Ebene erleben. Als in Wien die Bomben fielen, hatte ich diesen Eskimo-Traum – noch bevor ich den Rasmussen gelesen hatte. Ich habe diesen Schamanengesang wortwörtlich geträumt. Damals habe ich angefangen, mir eine Lampe und einen Bleistift neben das Bett zu legen, um diese Träume aufzuzeichnen. Damals habe ich bemerkt, dass da etwas Wichtiges vor sich ging in mir - aufgeschreckt durch den Lärm der Bomben. So habe ich mit den Farbstiftzeichnungen begonnen, die mir dann leider alle verloren gegangen sind. Es gibt so viele Sachen, bei denen es wirklich schade ist, dass ich es nicht wieder probiere. Auch die Landschaftszeichnungen aus Graz – von denen ist auch keine mehr da. Das waren ja eher surrealistische Baumzeichnungen. Manchmal, wenn eine Situation besonders aufwühlend ist, wie dieser gestürzte Baum, den ich Dir neulich gezeigt habe, dann möchte ich fast wieder nach der Natur zeichnen.

U: Kommen wir wieder zu Deiner Initiationskrankheit in Ibadan zurück. Kannst Du die Bedeutung eines solchen Eingriffes in das Leben eines Menschen ganz allgemein erklären?

S: Bei den Yoruba ist es so, dass das kollektive liturgische Ego mit einem sehr dichten Netz von Symbolen arbeitet; nur so ist es möglich, dass die Götter fast auf der Erde leben ... oder, dass sie in einer gewissen Dimension auf der Erde leben, mit den Menschen zusammen. Nur so ist es möglich, dass die Menschen es auch können...

U: Dass sie den Orisa "tragen", ihn verkörpern können?

S: Ja, denn jeder einzelne Orisa hat den Mythos, der ihn als schamanisches Vorbild hinstellt. Die Personifikation des Gottes durch den Menschen: das ist ein schamanisches Abenteuer, das Hineingreifen in eine andere Dimension.

U: In den Mythen der Orisa haben die Götter ja selbst menschlichen Ur­sprung, oder zumindest ein Aspekt ihres Wesens ist menschlichen Ur­sprungs. Wenn es zum Beispiel von Sango heißt, dass er ein König von Oyo war, dass er nach einem Konflikt mit seinem Volk seine eigenen Leute tötete, sich dann aus Verzweiflung erhängt hat und zum Himmel aufgestiegen ist – dass also seine Gottwerdung gerade mit seiner menschlichen Natur und seinen menschlichen Schwächen zu tun hatte – dann handelt es sich doch um Symbole, die sich in verschiedenen Formen in fast allen Kulturen wieder finden ...

S: Diese Geschichte von Sango ist eigentlich schon fast ein Märchen und kein Mythos.

U: Es ist aber trotzdem universell.

S: Na ja, das Verletzen eines Tabus, das ist ja eigentlich die größte Tragödie, die sich ereignen kann, und gleichzeitig auch eine Vorbedingung. Man darf dies nicht als historische Legende begreifen. Man muss wissen, dass diese Dinge jenseits der Zeit und jenseits der gewöhnlichen Raumvorstellungen liegen. Dann kann man auch die Dinge, die der Jung sehr gescheit ausgegraben hat, als primäre Mythen sehen, die in derselben Reihe stehen wie die Orisa Mythen. In diesen Mythen ist alles ein primäres Geschehen, in dem der Schock und die Tragödie auch "Treibstoff' sind ... oder "Zündung"...

U: Und die Schamanenkrankheit ist auch eine Art von geistiger "Zündung"?

S: Es ist festgestellt worden, dass keiner Schamane wird, ohne diese Todesnähe erlebt zu haben - und da haben wir ja wieder den Jacob Wassermann. Während der Initiationskrankheit gab es eine sehr lange Periode, in der ich außerhalb des Lebens stand, zu einer Zeit, in der ich noch sehr unreif, aber doch hundert Prozent bereit war, mich beeindrucken zu lassen.

U: Vielleicht brauchtest Du die Krankheit, um für die Begegnung mit der Iya Sango in Edel7 vorbereitet zu sein. Diese temperamentvolle alte Frau war - glaube ich - Deine erste Begegnung mit einer Olorisa. Und sie hat dann gleich einen ganz wesentlichen Schritt getan indem sie Dich in die Ogboni Gesellschaft eingeführt hat.

S: Ogboni war von Anfang an! Ogboni hat mich damals ja sofort verschluckt – dabei hab ich damals noch nichts begriffen.

U: Durch die Ogboni Gesellschaft standest Du von vornherein mitten drin; denn hier trafen sich ja die wichtigsten Priester aller Yoruba Kulte. Die Iya Sango hat sicher auch geahnt, welche Rolle Dir bei den Yoruba vorbehalten war, sonst hätte sie kaum so schnell einen so entscheidenden Schritt unternommen. Aber die eigentliche Krise in Deinem Leben fing ja erst mit dem Ajagemo an: durch ihn wurde auf einmal alles absolut, er stellte unerhörte Forderungen an Dich, und von da an gab es kein zurück mehr. Ich glaube, dass dieser Priester so großartig war, weil er, als erster in einer langen Reihe von Ajagemos, sich der Tatsache bewusst war, dass sein Orisa auszusterben drohte. Er sah seine Gemeinde schrumpfen, viele wichtige Häuptlinge in der Stadt waren Moslems, und vor deren aggressiver Haltung konnte ihn nur der König schützen – und der war Christ. Allerdings hegte der Timi von Ede eine gewisse Sympathie für die traditionelle Religion. Je kleiner die Gemeinde der Obatala Verehrer wurde, umso schwerer lastete die rituelle Verantwortung auf den Schultern des Ajagemo, umso mehr Kraft investierte er in Dich. Denn er hat zweifellos gewusst, dass durch Dich die Yoruba Religion eine Chance hatte, die Krise zu überstehen – wenn auch in modifizierter Form.

S: Da sind Dinge vor sich gegangen, von denen ich vorher nichts ahnen konnte. Ich wusste natürlich nicht, dass eine so schwere Initiation auf dieser ganz intensiven Ebene zehn Jahre dauern würde ... Wie Du weißt, wollte ich während dieser zehn Jahre keinen Besuch sehen, ich meine keinen Oyimbo19. Und das hat mir nicht der Ajagemo suggeriert, das war schon der Orisa selbst. Nun war der Ajagemo auch nur ein Mensch und nicht der Orisa selber, obwohl er wie ein Guru die Rolle des Gottes spielen musste. Und da passierte es ihm, dass er angesichts meiner totalen rituellen Begabung - ich habe einfach alles begriffen und richtig gemacht, auch innerlich richtig - einfach unterschätzt hat, was das für eine Forderung war, auf welches Risiko ich mich da einlassen musste.

U: Was kann man nun generell zu diesem Initiationsvorgang sagen, was ge­schieht mit dem Menschen, und wer lenkt den Prozess? Denn irgendwer muss ihn doch leiten, muss ihm doch eine Richtung geben.

S: (lacht) Es geschieht einfach. Wer lenkt denn die Sonne?

U: Aber eine Trance, die im Obatala Kult ausgelöst wird, ist rein physiolo­gisch gesehen das gleiche wie eine Trance bei den Holy Rollers (amerikanische Sekte). Aber was die Trance auslöst, ist etwas total anderes, etwas völlig Gegensätzliches. Ich stelle mir
also doch vor, dass der Ajagemo in diesem Fall eine ganz aktive Rolle dabei spielt. Oder geschieht es durch ihn?

S: Durch ihn. Es geschieht in mir. Aber man weiß ja auch vom Ifa Orakel: Es kommt darauf an, welche von den fast unbegrenzten Möglichkeiten sich der Orakelpriester da herausgreift in seiner Interpretation. Gelegentlich kommen starke Linien im Leben zusammen, und wenn man dann nicht schnell hineingreift oder hinschaut, dann geht jede in ihre eigene Richtung weiter, dann laufen sie wieder auseinander ohne dass irgendetwas passiert. Eine solche Überschneidung der Linien war meine Begegnung mit dem Ajagemo. Und nachdem sich diese Dinge jenseits der Zeit abspielen – also ohne `Vorher' und `Nachher' – sind das "vorauserinnerte" Dinge.

U: Was aber ist die Natur dieser Wandlung? Denn es handelt sich doch um einen Vorgang, in dem die Persönlichkeit sich grundlegend wandelt...

S: Es ist einfach ein spontaner Sprung in die Dimension, in der die Gegensätzlichkeit sich auflöst.

U: Gegensätzlichkeit von? Leben und Tod? Gott und Mensch? Diesseits und Jenseits?

S: Gegensätzlichkeit an sich. Coincidentia oppositorum. Das ist der Funke, und da muss einer natürlich physisch zurechtgeschmiedet werden.

U: Und was ist die Gefahr? Denn es liegt ja offensichtlich eine Gefahr darin, diesen außergewöhnlichen Weg zu gehen
und daran zu zerbrechen?

S: Dass man sich in nichts auflöst, nicht mal das profane Weiterdudeln wie vorher.

U: Kann man sagen, dass so eine totale Auflösung bei einem Menschen, der aus der Kultur selbst kommt, praktisch nicht vorkommt? Denn wenn jemand in einer Sango Familie aufwächst und er dann irgendwann vom Sango ergriffen wird, kann das
Risiko ja nicht das gleiche sein, wie bei einem, der von außen in diese Welt kommt?

S: Das kann man annehmen. Obwohl unser Sango – der Sangodare – auch eine sehr gefahrvolle Initiation hatte. Denn er hatte, auch als Kind, durch die veränderte Umwelt auch sehr viele Züge entwickelt, die eigentlich "un-Yoruba" waren. Er hatte schon gelernt, die Dinge auch von außen zu sehen - und das nimmt ihm ja einen Teil seiner Kraft.

U: Weil die Kultur schon selbst nicht mehr so eindeutig definiert war, als er die Initiation durchmachte. Weil sie schon von allen Seiten angefochten wurde ...

S: Sicher. Aber auch durch die Beziehung zu mir. Da war eine Vorauserinnerung an ein Schicksal, dass ja sehr ungewöhnlich ist.

U: Es ist ja auch ein sehr schweres Schicksal für ihn, dass er jetzt etwas vertreten muss, an dem immer weniger Menschen hängen. Es ist ja eine ganz exponierte Situation.

S: Da ist er nicht allein. Außerdem wird an ihn eine eindeutige Forderung gestellt, nämlich dass er das Jahresfest seines Vaters weiter arrangiert und finanziert und die Leute, die es zelebrieren, einlädt. Dadurch, dass er dieses Fest weiter konsequent durchgeführt hat, wird er auch zu allen anderen Sango Festen eingeladen. Und er tanzt sehr gewaltig! Vielleicht ist er noch nicht so großartig wie der verstorbene Bandele von Otan, aber sein Tanz ist von der gleichen wuchtigen Art. Er wird anerkannt. Ich habe das Gefühl, dass er stärker wird. Er wird auch ein immer besserer Heiler. Er kennt sich immer besser mit den Heilpflanzen aus, weil er immer wieder zu den ganz alten Leuten geht und sich Rezepte geben lässt. Er ist sicher nicht der einzige junge Priester, der so ein komplexes Leben führt, aber die Überbrückung dieser kulturellen und geistigen Gegensätze ist ihm so gut gelungen, wie ich es noch bei keinem anderen erlebt habe.

U: Der Sangodare lebt dieses Doppelleben als Künstler und Priester, ähnlich wie Du auch. Und auch an Dich wurden ganz eindeutige Forderungen gestellt.

S: Ich habe nie aufgehört, ein Künstler zu sein, wenn man schon dieses "gescherte " Wort benutzen muss. Das hat mir durch die Krisen geholfen und hat mir auch eine Richtung gegeben, weil es mir die Erlaubnis gab ... denn es wäre ja wirklich eine Anmaßung, wenn man sich das bewusst erlauben würde, was ich gemacht habe. Aber in der Yoruba Religion gibt es keine begrenzte Anzahl von Orisa; die starken Priester-­Persönlichkeiten haben immer wieder neue Varianten eines Orisa verkörpert. Denk an die vielen Erinle Schreine in Ilobu. Da gibt es den Akanbi, den Agbadada, den Apala ... Alle anders, und doch sind alle der gleiche Orisa. Die Neuheit meiner Situation erzeugte eine Dynamik, die zu einer Einmaligkeit führte. Es gibt ja viele, die mit dem, was ich tue, sympathisieren, aber es gibt nur eine Adunni Olorisa.

U: Das Großartige dieser Kultur war schon immer, dass sie eine solche Vielfalt, dass sie so viele Varianten gelten lassen konnte.

S: Das ist es eben, was ich sage. Die Arbeit, die ich in den Hainen machte, empfand man als Selbstverständlichkeit. Die Leute dachten: "Da ist jemand wirklich vom Orisa geritten und macht etwas." Da schaut man zu und freut sich, man mag die Person, der das passiert.

U: Die Yoruba Religion war ja das totale Gegenteil vom Fundamentalis­mus, von jeglicher starren Religion. Selbst die großzügigste Form des Christentums ist nicht so flexibel.

S: Christus war natürlich auch ein Avatara21, das erkenne ich an. Aber das Christentum wurde nicht von Christus gegründet, sondern von Paulus. Der war zwar ein großes Genie, aber er hat sofort alles verdreht.

U: Wenn Deine Situation vor zwanzig Jahren, als alles noch sehr intakt war, schon äußerst spannungsreich und komplex war, dann muss es jetzt doch noch viel schwieriger sein, weil es immer weniger Olorisas gibt und Du in einer immer exponierteren Position lebst.

S: Es ist sehr, sehr schwer. Deswegen ist die Peju ja gegangen, weil sie die Geduld nicht mehr aufbringen konnte. Es ist aber wiederum so, dass die künstlerische Arbeit alles erträglich macht. Und natürlich habe ich auch die Möglichkeit, an dem herrlichen Fluss zu sitzen. Ich bin äußerst empfindlich gegen geistige Schlamperei. Alle neuen Kombinationen sind möglich und erwünscht. Neue Versionen, neue Erscheinungsfor­men, neue Interpretationen – das gibt Kraft. Aber diese Schlampereien heute, die Verflachung, die Zerstreuung, das ist schon sehr schlimm. Deswegen ist man heute geradezu erschüttert, wenn manche junge Leute noch mit soviel Energie an den Dingen fest­halten. Es ist natürlich furchtbar schwer, wenn heute ein junger Priester in einem Zustand kontrollierter Trance als Bettelmönch umherwandern muss. Deswegen ist der Ekun, der schöne junge Sonponna Priester auch so früh gestorben.

U: Die Yoruba Religion brachte den Menschen eine ganz außerordentliche Ruhe und Harmonie, die nicht durch Restriktionen und strenge Regeln erzielt wurde, sondern gerade durch das Ausleben aller Emotionen im Ritual. Diesen Zustand der "energiegeladenen Entspannung" haben die großen Yoruba Schnitzer in ihren Plastiken immer wieder dargestellt. Heute ist diese Lebensqualität der Yoruba immer seltener zu finden. Umso wichtiger ist die Erhaltung des heiligen Hains am Osun Fluss, der einzig Deinem vierzigjährigen Einsatz zu verdanken ist. Die neue sakrale Kunst, die dort entstand, beweist, dass die Kreativität der Yoruba noch sehr lebendig ist, auch wenn sie sich ganz anders als früher ausdrückt. Der Osun Hain ist der Brückenkopf in die Yoruba-Zukunft!